Brigitte winkt mir zu. Eine grosse, schwere dunkelhäutige Frau mittleren Alters kommt mir entgegen und hilft mir mein Gepäck in den Kofferraum zu legen: “ça va?….il était comment ton voyage?”. Wir setzen uns ins Auto und fahren los. Ich war in Québec angekommen, dem französiche-sprachigen Teil Kanadas. Ganz war ich noch nicht da, denn nach der Ankunft der Maschine im Flughafen Trudeau, ging alles etwas schnell. Bus 747, Telefonkarte und wieder Bus und schon war ich in meiner Gastfamilie in Sherbrooke angekommen. Brigitte, die Hausherrin begleitet mich hineien in meine neues zuhause, ein grossen weisses Herrenhaus, auf der Landstrasse zwischen Sherbrooke und Lennoxville. Und das Ganze, weil Magali und ich im November 2011 einen Hund in Ulaanbaatar gefunden hatten und jeden Ausländer ansprachen, den wir unter die Augen bekamen. Die Frau von Jean-Luc, den Mann den Magali damals in der Mongolei angespochen hatte, zeigte mir mein Zimmer. Einen liebevoll eingerichteten Raum mit Doppelbett und Holzboden. Ich wusste sofort, dass ich mich hier wohlfühlen würde. Es gab Fisch zum “souper”, dem Abendessen. Nicht wie in Frankreich, wo das Abendessen “dîner” heisst. In Québec ist halt alles etwas anders, die Sprache, die Leute und die Umgehensweise. Ein entspanndes Gespräch, ein paar Geschenke und eine kurze Nacht, denn mein Körper war noch in Europa.
Zum Erholen gab es an den nächsten Tag keine Zeit. Der Geschichtslehrer des Gymnasiums “Montcalm” hatte sich bereit erklärt, mir seine Schule zu zeigen umd mir das Gespräch mit Lehrern zu ermöglichen. Genauso Marie-Hélène, eine Grundschullehrerin, die mich während eines ganzen Tages durch ihre Schule schleppte und andere Lehrer dazu aufforderte mich mit in ihre Schulstunden zu nehmen. Das Programm war taff, die Menschen herzlich. Nachnamen gibt es in Québec nicht, sowohl auf der Strasse, als auch in der Schule. Für die Schüler ist Marie-Hélène, Marie-Hélène und nichts anderes. Spricht man mit den Lehrern über dieses Thema, wäre ihnen die Höflichkeitsform kein Dorn im Auge.
Die Schüler in Québec besuchen 6 Jahre die Grundschule, welche jeweils den unterschiedlichen “arrondissements” zugeteilt sind. Bereits hier gibt es unterschiedliche themenbezogene Schulen, wie z. Bsp. die Schulen zu den Themen “Plein air et nature” oder “Art et culture” oder “Sport et santé”. Gleich nach dem 6. Schuljahr wird diese Unterteilung weitergeführt und ausgeweitet. Die jungen Leute besuchen dann 5 Jahre die Sekundarschule um während den letzten 2 Jahre im CEGEP auf die Universität oder die professionnelle Ausbuldung vorbereitet zu werden. Schon früh lernen sie sich mündlich zu bewähren, regelmässig an Examen teil zu (in Abständen von 2 Jahren) oder sich nach der Schule noch an schulbezogenen Projekten zu betätigen.
Ein grosses Gesprächsthema meines Besuches waren die “compétences”. Da Kanada bereits seit rund 10 Jahren anhand von Kompetenzen die Schüler bewertet, sollten mir ihre Erfahrungen für meine Praxis etwas bringen. Tatsächlich sind viele davon überzeugt, dass das kompetenzbasierte Bewertungssystem den Schülern genauer und detaillierter Aufschluss gibt was sie können und woran sie noch arbeiten müssen, dennoch gibt es einige Kritikpunkte. So wurde öfters die erheblich grösserer Burokratie erwähnt, das Nichtverstehen vieler Eltern und Schüler und das immerwieder wechselnde Bewertungssystem der Schulministeriums, so dass in Qébecmittlerweile sowohl die qualitative und die quantitative Bewertung parallel angewandt werden müssen.
Das Zusammensein mit den Familien Marcellin und Gosselin ermöglichte mir desweiteren einen Einblick in ihre Glaubensgemeinschaft. So begleitete ich sie zur “Sonntagsmesse”, die an dem Tag in einem Museu stattfand. “Axe 21” nennt sie sich, die “urbane Kirche von Sherbrooke”, die versucht protestantischen Christen die Bibel etwas “realitätsbezogener” darzulegen. Ihr Pastor Marc Pilon ist schon fast ein Superstar in der Stadt und die “Messe” an dem Sonntag gut besucht. Entspannende Kleidung, Beschäftigung für die Kleinen im Museum, Lesungen aus der Bibel und Interpretationen, sowie gemeinsames Singen, ziehen immer mehr junge Menschen an und ermöglichen so einen anderen Zugang zum Glauben und zur Religion. Da ich mich anfangs auf eine gehirnwäscherische Zeremonie eingestellt hatte, kam ich umso positiv beeindruckt wieder heraus. Wer hat sich nicht selbst schon Fragen über seine Religion respektiv seinen Glauben gestellt und warum sollte eine solche Herangehensweise nicht von Nützen sein um seinen Platz in der Gesellschaft zu finden?
Über eine Woch hatte ich bei den Marcellins und den Gosselins verbracht und dank ihnen Québec in mein Herz geschlossen.