Es war alles nur ein Traum. Alles nur ein schlechter Traum. Die Geräusche von draussen dringen ins Zimmer, rütteln mich heftiger als gewohnt aus dem Schlaf, ich öffne die Augen und bin in Kolkata.
Sechs Stunden zuvor, sanken wir erschöpft in unsere Kissen. Es war kein
Traum. Denn sechs Stunden erreichten wir den Flughafen von Kolkalte und fuhren durch Kolkatas Nacht. Die Beleuchtung war so spärlich, als würde man nachts mit einer Sonnenbrille durchs Autofenster blicken. Das Herz schlug bis zum Hals, die Hände waren feucht. Der Blick haftet am Fenster. Vorbei an kaputten Häusern, vorbei an Strassenhunden, vorbei an Menschengestalten die auf dem Boden liegen, vorbei an Strassensperren. Die Strassen die links und rechts einbogen waren so dunkel, dass es so aussah als würden sie von der Dunkelheit verschluckt. Dann biegen wir ebensfalls links ein, nach ein paar Meter bleiben wir stehen. Nichts. Alles ist geschlossen, es scheint eine Geisterstadt. Wir steigen aus. Der Fahrer klopft an ein Gitter, es wird geöffnet und wir sind im Hotel. Raus aus der Dunkelheit.
Eine Indienreise in Kolkata zu beginnen, ist wahrscheinlich nicht sehr schlau. Indien zeigt sich hier rau und hart. Es scheint, die Stadt blutet aus, schenkt ihre letzten Tropfen Leben. Und doch kommt es einem vor, als träge diese Stadt ein eigenes Geheimnis. Alte Kolonialgebäude, von denen der Putz schon längst abgefallen ist, zeugen von einer anderen Zeit. Verraten bei näherem Hinsehen ihre einstige Schönheit. Ein paar Schätze gibt es Heute noch: das Victoria Memorial, das Indian Museum, der Khali Tempel, alte verlassen Friedhöfe, hier und da britische Relikte. Die Strassen sind voller Menschen. Das Chaos ist einzigartig. Die Armut sitzt an jeder Strassenecke, die Müllberge haufen sich, ziehen Schweine in die Stadt. Greifvögle kreisen darüber. Und es scheint das Leben folgt hier einem eigenen Rythmus.
Während unseres Aufenthaltes standen wir in Kontakt mit einem deutschen Freiwilligen. Daniel absolviert hier ein freiwilliges Jahr. Ein junger Mann, knappe 19 Jahre alt, führt uns am zweiten Tag durch das Wirrwarr Kolkatas. Er ist Freiwilliger bei Helgo Northpoint, eine NGO die im Armentviertel Howrah ein Hostel für ehemalige Arbeiterkinder (child labour) führt. Wir besuchen ihn und das Hostel in Howrah/ Tikiapara.
Helgo Northpoint in Howrah/ Tikiapara ist eines von insgesamt drei Häusern die ihn Kolkata mit Arbeiterkinder arbeitet. Träger ist H.E.L.G.O. e.V. in Hamburg (HELGO= Help for Education an Life Guide Organisation), Gründervater ist der deutsche Artzt Meyer-Hamme, der sich seit 1995 für Arbeiterkinder einsetzt. Wir verabreden uns mit Daniel im Hostel. Es ist Vormittag als wir ankommen, nur ein paar Kinder sind im Hostel, wir treffen den Verantwortilichen in Tikiapara und die Sozial-arbeiter. Das Hauptprinzip von Helgo Northpoint: Kinder die arbeiten – als Müllsammler, in Metallfabriken – aus ihrer Arbeit rauszunehmen und ihnen einen geregelten Alltag zu ermöglichen. Ein Kind, das acht Stunden am Müllberg Plastikflaschen sammelt, verdient etwa 10 Rupees, um-gerechnet 15Cents. Die Kinder aus der Arbeit zu nehmen löst jedoch nicht das Problem. Einige Kinder wollen arbeiten um die Familien zu unterstützen. Und alle Kinder müssen arbeiten, denn die paar Rupees, die sie verdienen können das Überleben der ganzen Familie mitsichern.
Darum erhalten sämtliche Familie, die mit Helgo Northpoint zusammen-arbeiten Essenszulagen: einmal monatlich erhalten sie Seife, Reis und Dahl. Dadurch können die Kinder wieder in die Schule, erhalten im Hostel Essen und Nachhilfe und die Familie ein Substitut für das fehlende Einkommen des Kindes.
Im Hostel leben und schlafen 17 Jungen. Diese kommen aus sehr ärmlichen Familien. Insgesamt gehen jedoch in Tikiapara täglich 200 Kinder ein und aus. Die sogenannten “Projektkinder”. Hier wird ein kostenloser Mittagstisch für sie angeboten und Nachhilfeunterricht. Für viele Kinder ist dies die einzige Mahlzeit am Tag.
Wir machen uns mit den Sozialarbeitern mit auf zu den Hausbesuchen. Täglich besuchen sie Familien, reden, informieren, diskutieren über Probleme, klären auf. Die erste Familie, die wir besuchen lebt in einem alten Gebäude in einer Seitenstrasse. Der Weg ins Zimmer führt durch einen dunklen Gang. Das Zimmer ist ohne Fenster und auf sieben Quadratmeter, leben, essen und schlafen fünf Familienmitlgieder. Ein Doppelbett für die Eltern und ein Kind. Die anderen zwei Kinder schlafen
unter dem Bett auf feuchtem Bodem. Die beiden grösseren Jungen leben nicht mehr bei den Eltern und ein Kind mit einer Behinderung lebt in einem Heim. Drei sind also noch bei den Eltern. Im Zimmer riecht es muffig, es ist feucht und lediglich eine kleine Lampe spendet Licht.
Der Vater der uns begrüsst, bittet uns auf dem Bett Platz zu nehmen und bietet uns Tee an. Er spricht von seinem Kindern, seinen Problemen und darüber, dass er froh ist, dass sein Junge endlich wieder zur Schule gehen kann. Nach einer halben Stunde verlassen wir die erste Familie. An diesem Tag müssen sieben Familien besucht werden. Bei der zweiten Familie sieht die Wohnsituation nicht anders aus. Das Zimmer ist noch kleiner. Wieder drängen uns die Leute auf dem Bett Platz zu nehmen, Nachbarn kommen hinzu. Der kleine Junge um den es geht, erklärt in etwas holprigem Englisch wie alt er ist und was er am liebsten mag, Kricket spielen und Hindi lernen. Wir ziehen weiter, durch die Strassen von Howrah. Wir verlassen die Hauptstrasse und biegen in ein Slum ein, das direkt an den Bahngeleisen liegt. Schweine suchen nach Essen, Kinder spielen nicht unweit von ihnen entfernt, Mütter waschen Kleider und Kinder in dem bräunlich stinkenden Wasser. Nur aus Holz und Kleiderfetzen bestehen die Häuser hier. Von Überall kommen Kinder, Frauen und Männer, schütteln unsere Hände und wollen uns ihr Hab und Gut zeigen. Während wir uns mit ihnen unterhalten, hören wir aus naher Entfernung ein vorbeifahrender Zug. Die Geräusche des Zuges ver-mischen sich mit Kinderlachen, den Frauenstimmen, den Autos die dicht an den Häusern vorbeifahren.
Die Sozialarbeiter drängen zum Aufbruch. Sie müssen wieder zurück zum Hostel und wir zurück in die Stadt. Zu Fuss wagen wir den Rückweg, über die Howrahbrücke, die wie ein grosser Metallklotz die Trennung zwischen Arm und Reich signalisiert. Die Brücke, die von Ingenieuren der Welt bewundert und bestaunt wird, ist für die Menschen in Kolkata die Verbindungsader zur Stadt, zur Arbeit und Hoffnung auf ein besseren Leben. Täglich überqueren über 2Mio Menschen diese Brücke. Wir betreten die Brücke Autos, Bussen und Lastwagen rauschen an uns vorbei. Der Menschenstrom reisst uns mit. Während unter unseren Füsse die Brücke von dem Trubel bebt, bebt es in unseren Seelen. Uns wird schlagartig bewusst: Wir sind in Indien angekommen und sind unvorbereitet in diese fremde Welt gesprungen. Die Bilder, die Familien, die Kinder, das Leben das wir sehen, riechen und hören prasseln auf uns nieder. Und wir können nichts tun.
Das einzige was wir machen können ist, endlich die Augen aufzumachen Indien und das Leben, wie es sich hier uns präsentiert, zu entdecken.
Wir wünschen Daniel weiterhin viel Kraft bei seiner Arbeit und bedanken uns für die Zeit, die er sich genommen hat. Auch bei H.E.L.G.O. e.V. wollen wir uns bedanken, dafür, dass wir teilnehmen und lernen konnten. Und bei den Familien, dass sie für uns ihre Türen geöffnet haben.
Wer mehr über H.E.L.G.O. e.V. wissen möchte, findet Informationen unter: http://www.helgo-ev.de/
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